Über Stadt.Land.Pop


Kettcar machen erwachsen
31. Dezember 2008, 12:46
Filed under: Albumkritik | Schlagwörter: , , ,

Das neue Album «Sylt» von Kettcar

Zwei Jahre nach dem Album «Von Spatzen und Tauben, Dächern und Händen» kommt das neue, schlicht «Sylt» genannt, auf den Markt. Problem: Kettcar sind Kettcar sind Kettcar. Schluss mit dem Gerede von Liebe. Kettcar machen ernst. Oder besser Kettcar machen erwachsen.

Natürlich hätten sie weiter über Liebe und Neid singen können. Doch «Romantik und Gemütlichkeit kriegen hier die Tür vor die Nase», erklärt die Band selbst, wohl wissend, dass diesbezüglich das Vorgängeralbum ohnehin nicht zu toppen gewesen wäre. So viel Lob gab es damals, von Fans und Presse gleichermaßen. Überschwänglich wurden Kettcar gefeiert, eine hohe Charts-Platzierung gab es dazu.

Auch die musikalischen Karten wurden neu gemischt. «Sylt» hat so gar nichts heimelig Wohltuendes, das Album schlägt Krach, es schmerzt, es drängt. Strukturen werden überworfen, Kontrapunkte platziert und immer wieder Zeichen gesetzt. Und trotzdem ist es mitreißend, tanzbar und leidenschaftlich.

Der Blick schweift vom Inneren zu den Alltagsgeschichten. Nur nicht nach außen, denn es gibt «Kein Außen mehr» und Distinktion funktioniert schon lange nicht. Wo mal hell und dunkel, schwarz und weiß waren, gibt es heute nur noch rohes atmosphärengrau. Die Gitarren rauschen etwas mehr, der Gesang droht manchmal in Nuscheleien unterzugehen. Ziemlich hart für selbsterklärte Gitarrenpopper. Gleich zu Beginn der knapp 44 Minuten sabotiert die Band mit der ersten Single «Graceland» prominente Mythen, zweifelhafte Begegnungen und sich selbst gleich mit. Statt Ich und Du spricht nun das wütende Wir, das gnadenlos schildert, was schief läuft. Früher war nicht alles besser, aber es fiel leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen.

Auch wenn das Lied gute Laune verbreitet, berührt der Text eher durch Sachlichkeit. Ernüchterung setzt auch schon bei einem Bierchen «Am Tisch» ein. Das Finale einer Freundschaft, bei dem Niels Frevert und Ich-Erzähler Wiebusch aneinander vorbei, aber dem anderen letztmalig ins Gewissen reden. Dieser unerwartete wie bereichernde Auftritte verleiht dem Lied eine  bedrückende Tragik.

In zwölf Geschichten, die vor Projektionsflächen nur so strotzen, die das Scheitern kompromisslos und bis über die Schmerzgrenze hinaus beschreiben («Würde», «Verraten») oder prophezeien («Geringfügig, Befristet, Raus»), arbeiten sich die Hamburger an der Wirklichkeit ab. Und noch ehe die Nordsee der Insel das letzte Stückchen Land raubt, legen Kettcar «Sylt» in Schutt und Asche. Mit ihr verschwinden all die Träume, all die Lügen und all die Intrigen.

Und mit «Wir Werden Nie Enttäuscht Werden » läuten Wiebusch und Co. die Trostrunde ein. Die Sprengkraft des Liedes erinnert enorm an das ähnlich positionierte Tocotronischen «Explosionen». Aber hier geht am nächsten Tag die Sonne auch wieder über Sylt auf und bringt neue Träume, neue Lügen und neue Intrigen. Willkommen in der Realität.

«Sylt» ist eine gute Platte, eine sehr gute sogar. Mit den Kettcar-typischen eingängigen Pop-Melodien, mit weisen Texten. Sofern man sie denn versteht, manchmal wirkt es doch allzu sehr dahingenuschelt. Aber es ist nicht anzunehmen, dass ihr der gleiche Erfolg beschieden sein wird wie dem Vorgänger-Album, das weit weniger anstrengend, weit weniger klagend und vor allem zielgruppenaffiner war. «Sylt» ist eine realistische und daher mitunter düstere Chronik.

Anne Kristin Fuest

Kettcar, das sind:
Marcus Wiebusch – Gesang & Gitarre
Lars Wiebusch – Tasten & Gesang
Reimer Bustorff – Bass & Gesang
Erik Langer – Gitarre & Gesang
Frank Tirado Rosales – Schlagzeug